In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 organisierte das nationalsozialistische Regime Gewaltmaßnahmen gegen Juden in Deutschland und Österreich. Lisa Dopke, die an der Evangelischen IGS Wunstorf die Holocaust Education koordiniert, ordnet diese als „Novemberprogrome“ bezeichneten Maßnahmen in den historischen und aktuellen Kontext ein.
Viele Begriffe sind für die Nacht vom 9. auf den 10. November im Umlauf. „Reichskristallnacht“, „Reichspogromnacht“, „Novemberpogrome“. Jeder dieser Begriffe ist für sich problematisch. Der eine zynisch und euphemistisch. Die anderen spielen in gewisser Weise der nationalsozialistischen Intention in die Hände, die Ausschreitungen gegen die jüdische Bevölkerung als Ausbruch „spontanen Volkszorns“ zu bezeichnen. Doch das waren sie nicht. Die Ausschreitungen gegen die Jüdinnen und Juden im Deutschen Reich waren geplant, organisiert und äußerst gewaltvoll.
Den Ausschreitungen ging die antisemitische Politik der Nationalsozialisten voraus. So gab es die erste Massenausweisung polnischer Juden („Polenaktion“ genannt), in deren Folge Herschel Grynszpan den Legationssekretär Ernst von Rath erschoss. Grynszpans Eltern waren von der „Polenaktion“ betroffen. Die NSDAP nutzt dies, um kurzfristig und großflächig Stimmung gegen die Jüdinnen und Juden zu machen. Es gibt Quellen über direkte Anweisungen zur Organisation der Übergriffe, Anweisungen für die Presse und was diese zu schreiben hat; die Gruppen der SS und der SA organisierten sich und schritten zur Tat.
Die Wertung dieser Ereignisse ist in der Geschichtswissenschaft sehr unterschiedlich. Auf der einen Seite sei es der NSDAP um einen Test gegangen, was die deutsche Bevölkerung alles erdulden würde (Peter Loewenberg). Andere sagen, der Holocaust hätte im November 1938 begonnen (Wolfgang Benz). Wieder andere sehen keine ungebrochene Kontinuität zwischen Novemberpogromen und Shoa (Frank Bajohr).
Was bleibt sind – egal, wie diese Nacht bewertet wird – mehrere Hundert ermordete Jüdinnen und Juden. Mindestens 300 begingen Suizid. Es kam zu rund 1400 stark beschädigte oder zerstörte Betstuben und Synagogen, Wohnungen, Geschäfte und jüdische Friedhöfe. Ca. 30.000 Jüdinnen und Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt.
Und wir heute? Heute kommt es immer wieder zu Anschlägen auf jüdische Gotteshäuser. Die Synagogen haben private Sicherheitsleute engagiert, die Glasscheiben bestehen aus Panzerglas, es gibt Kameraüberwachung. Ein Skandal, dass die jüdischen Communities in diesem Maße für ihre Sicherheit sorgen müssen. Aber diese Auswahl an Übergriffen belegt die Notwendigkeit:
17.5.2010: Brandanschlag auf Wormser Synagoge
29.8.2010: Brandanschlag auf die Totenhalle des jüdischen Friedhofs in Dresden
30.10.2010: Brandanschlag auf die Mainzer Neue Synagoge
28.8.2012: Misshandlung des Rabbiners Daniel Alter, Berlin
2.6.2013: Misshandlung des Rabbiners Mendel Gurewitz, Offenbach am Main
29.7.2014: Brandanschlag auf Wuppertaler Synagoge
7.7.2018: Versuchter Messerangriff auf drei Orthodoxe Juden, Zürich
27.8.2018: Angriff auf ein koscheres Restaurant, Chemnitz
Anfang 2019: NSU 2.0 Drohmail gegen den Zentralrat der Juden in Deutschland, Würzburg/Berlin
4.10.2019: Versuchter Messerangriff auf die Neue Synagoge, Berlin
9.10.2019: Angriff auf die Synagoge in Halle
14.8.2020: Brandanschlag auf die Bar eines jüdischen Besitzers, Berlin
4.10.2020: Klappspaten-Attacke auf einen jüdischen Besucher der Eimsbüttler Synagoge, Hamburg.
Es gibt außerdem eine große Anzahl anderer Formen von Übergriffen und Diskriminierungen, wie das Bespucken und Beleidigen, die Angriffe auf private Wohnungen und Friedhöfe oder Gedenksteine. Für Jüdinnen und Juden sind Antisemitismus und Gewalt Realität.
Dem gegenüber kommt es parallel zu weiteren Entwicklungen, die antisemitischen Tendenzen Vorschub leisten: Am vergangenen Samstag kam es zu einer Querfront-Demonstration in Leipzig, an der laut Polizei – trotz Corona – ca. 20.000 Menschen teilnahmen. Wichtig ist zu sagen, das Rechtsradikalismus kein ostdeutsches Problem ist, sondern ein gesamtgesellschaftliches. Unter dem Mantel der Sorge marschieren allerdings Rechtsradikale, deren Ideologie in weiten Teilen anschlussfähig ist, seit der Pandemie in großen Zahlen auf: „In Leipzig ist das ‚Who ist Who‘ der rechten und neu-rechten Bewegung vertreten gewesen und dazu wurde im Vorhinein massiv öffentlich mobilisiert.“ (Judith Rahner, Amadeu Antonio Stiftung).
Das Problem ist hier die mangelnde Abgrenzung, die ebenfalls Anschlussfähigkeiten ermöglicht.
Rechtsradikale Ideologeme wie Antisemitismus, Rassismus und Demokratiefeindlichkeit werden hier unter dem Deckmantel der Meinungsfreiheit und Partizipation verbreitet. Dass das momentan vermehrt auftritt, ist keine Überraschung. Die Ängste und die Unsicherheiten, die durch COVID-19 auftreten und die Verfügbarkeit vieler Informationen – seriös und eben nicht seriös – mobilisieren Verschwörungstheoretiker*innen und Rechtsradikale. Während des Lockdowns im Frühjahr kam es zu einem Anstieg der Reichweite Rechtsradikaler im deutschsprachigen Raum um 18%: „Besonders auf Plattformen wie Telegram wuchs die Reichweite rechtsextremer Akteure während der Pandemie – bei den größten Kanälen um knapp 350%. In der Kombination aus Rechtextremismus, Verschwörungstheorien und den technischen Gegebenheiten von Telegram besteht eine erhebliche Radikalisierungsgefahr.“ (Jakob Guhl, Politikwissenschaftler, Institute for Strategic Dialogue). In diesen Gruppen wurde auch nach Leipzig mobilisiert.
Das, was für den*die Außenstehende*n hier also so plötzlich kommt, basiert erneut auf Organisation. Oberflächlich unabhängig von einer Partei, aber unter Rückgriff auf moderne Medien.
Antisemitismus ist hier immer wieder inhärent. Und dieser entlädt sich wieder – nur scheinbar spontan.
Das Einzige, was bleibt, ist sich diesen Einflüssen zu entziehen und sich ihnen bewusst zu werden: Antisemitismus und Rechtsradikalismus sind 1945 nicht verschwunden.
Übergriffe, Brandanschläge und paramilitärisches Organisationspotential sind immer noch vorhanden. Um seriöse Informationen bestimmen zu können, müssen Informationen ständig überprüft werden. Alles muss belegt werden. Quellenkritik, wie im Unterricht erlernt, muss in den Alltag transferiert werden.
Zentral muss hier die Frage sein: Was sagt wer, warum und vor allem wozu?
Mit dem Bewusstwerden der Umstände kann es dann vielleicht zu einem Gegenhandeln kommen.
Foto: falco/Pixabay
- Zitat Judith Rahner: https://www.instagram.com/p/CHTOy1VqYUM/?utm_source=ig_web_copy_link
- Zitat Jakob Guhl: https://www.instagram.com/p/CHSzWK1qf-T/?utm_source=ig_web_copy_link
- Chronik antisemitischer Vorfälle: https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/chronik/ und über Antisemitismus im Rechtsextremismus: https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/261322/der-antisemitismus-im-heutigen-rechtsextremismus über Organisation und Denken rechtsextremer: https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextreme-ideologie-maennlichkeit-gewalt-und-weisser.1148.de.html?dram:article_id=460266 und https://taz.de/Corona-und-Rechtsradikale/!5670941/
- Pogrome in Hannover https://pogrome1938-niedersachsen.de/hannover/
- Allgemeine Infos:
https://www.dhm.de/lemo/kapitel/ns-regime/ausgrenzung/novemberpogrom-1938/
- Quellen:
https://www.bpb.de/publikationen/HSB7VH,0,Die_inszenierte_Emp%F6rung_%96_Der_9_November_1938.html
- Erzählungen von Zeitzeug*innen:
https://www.youtube.com/watch?v=3tKOGQvhqIM und https://www.youtube.com/user/yadvashemgerman/videos
- Zeitungsartikel über Grynszpan: http://www.bpb.de/files/SGUDCH.pdf